Dienstag, 22. Juni 2021

last hour

[TW bzgl. Trauer/Tod]

Naja, und dann fragt man eben. Kommst du zurecht? Auch wenn die Antwort auf diese Frage schon klar ist - wie? Wie soll man bitte "zurecht kommen" in so einer Situation? Keara schreibt dann, für sie sei eine Welt zusammengebrochen, und als mir die Tränen schon über das Gesicht laufen realisiere ich: ich weine gar nicht für oder "wegen" Keara. Ich weine, weil ich genau weiß wie es sich anfühlt. Und auch an dieser Stelle - wie? Wie soll ich sie denn jetzt trösten? Ich kann ihr nicht sagen, dass das schon "wieder gut" wird. Denn. Das. Wird. Es. Nicht. Es wird nie wieder gut werden. Nicht, wenn es nach 10 Jahren immer noch so weh tut, dass ich meine, mein Herz zerspringe in seine Einzelteile. 

Und alles verschwimmt.

Wenn ich das Haus verlasse und in den nächsten Bus steige, kann ich 50 Minuten später vor ihrer Tür stehen. Nur ist das nicht mehr ihre Tür, denn es ist nicht mehr ihr Haus. Ich könnte auch in den Bus steigen und in 37 Minuten auf dem Friedhof sein. Da gibt es nur ein Problem.

(...)

Es ist gleich 14 Uhr und ich kriege den Deckel nicht drauf. Ich muss aber. Weil ich in einer Stunde Therapie habe und eigentlich über ein ganz anderes Thema reden wollte. Und weil ich weinen muss, wenn ich über sie spreche, und ich kann doch nicht vor Irelia weinen, das geht doch nicht.

(...)

Wie in einem schlechten Film laufe ich dann weinend durch den Regen und schlage - trotz Regenschirm - wie ein begossener Pudel bei Irelia auf. Noch bevor ich einen vernünftigen Satz formulieren kann, breche ich in Tränen aus. Klasse - also genau die Situation, in die ich nicht geraten wollte. Vielleicht hätte ich ein paar von den Zeilen vorlesen sollen, die ich zuhause noch geschrieben habe. Es tut so weh und ich frage mich warum; warum ausgerechnet sie, wo ich doch sonst niemanden hatte. (...) Und ich will schreien, und doch auf den Friedhof fahren - nur würde ich mir dann die Hände blutig graben bei dem Versuch, sie zurückzuholen. Dabei weiß ich, dass das nicht geht. Aber sie fehlt mir so unaussprechlich.

(...)

Ein Weilchen später sprechen wir über meine Eltern. Vielleicht hat das Weinen meine Zunge gelöst, jedenfalls sprudeln die Worte plötzlich nur so aus mir heraus. Irelia sieht irgendwann echt bestürzt aus. Dann sagt sie: "Da würde ich am Liebsten hinfahren und den Beiden links und rechts eine verpassen." [Oh. Okay?] Ich weiß, dass das eigentlich meine Gefühle sein sollten. Ich kann aber nicht. Wütend sein. Mittlerweile bin ich das mitunter auf Cheza - das ist ein Fortschritt. Aber wütend zu sein auf meine Eltern? Wenn es um das Thema geht, ist es schwierig, an überhaupt irgendein Gefühl dranzukommen. Außer, dass ich die Beiden auch noch verstehen kann; mein Vater hat X getan, weil. Und meine Mutter hat Y eben nicht getan, weil. Für Irelia gibt es aber kein "Weil" - genau deswegen ist sie stellvertretend wütend. Für mich. So lange, bis ich es vielleicht sein kann. Irgendwann. Zum Abschluss sagt sie: "Sie müssen sich keine Vorwürfe machen, weil Sie nicht wissen, was Sie Ihrer Freundin antworten sollen. Sie müssen sich auch keine Vorwürfe machen, weil Sie den Tod ihrer Oma nicht verarbeitet haben. Schließlich haben Sie nie gelernt, Dinge zu verarbeiten." Can't argue with that.

(...)


 Ich schreibe Keara und entschuldige mich für meine selten dämliche Frage. Erzähle ihr, dass ich verstehe, wie sie sich fühlt und gebe ihr zu verstehen, dass ich für sie da bin. Danach esse ich Schokoladeneis mit Erdbeeren. Genauso wie früher. Last Hour läuft im Hintergrund; die Musik fängt auf. Denn noch immer tut es weh. Aber nun so, dass es zu ertragen ist. [Der ganze Rest, der da gerade hoch kommt, wird verdrängt. Denn ich habe Vorstellungsgespräche und Prüfungen diese Woche. Ich. Muss. Funktionieren. Ich weiß nur noch nicht genau wie.]

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