Sonntag, 26. September 2021

(K)ein Sinneswandel

[evtl. Triggerwarnung bzgl. Essstörungen]

26.09.20 21:56 Uhr: Heute ist ein guter Tag, um dein Leben zu ändern.
Wir feiern Geburtstag. Heute. Mein Opa wird 81 Jahre alt. Im ganzen Haus riecht es nach Pflaumenkuchen und ständig klingelt das Telefon. Was niemand am Kaffeetisch weiß: dieser Tag ist auch für mich eine Art Geburtstag. Zwar ist mein richtiger Geburtstag erst im
Frühjahr - aber. Heute. Wird mein "neues" Leben offiziell drei Jahre alt. Und was tue ich? Ja. Genau. Ich trete es mit Füßen. Ein wenig mehr Dankbarkeit würde mir schon ganz gut stehen. Aber ich kann nicht. Und weil Kuchen essen und aus dem Fenster in den Garten schauen mich an Cheza erinnert... werde ich extra-melancholisch. Weil sie nicht da ist. Weil ich sie nicht anrufen kann. Weil ich sie nächste Woche eventuell anrufen könnte und genau das eventuell definitiv n i c h t tun sollte. Und weil ich weiß dass ich sowieso keine Wahl habe.

Den Rest des Tages verbringe ich am Schreibtisch. Ich muss viel für die Schule tun - viel viel zu viel. Noch vier Wochen. Dann habe ich an den Wochenenden vielleicht auch wieder Zeit für andere Dinge. Bis dahin... ist mir voraussichtlich vom ganzen Stress regelmäßig kotzübel und meine Wohnung ist ungefähr so aufgeräumt wie mein Kopf. Also gar nicht.
Positiv zu bemerken ist: ich habe (endlich) einen Therapieplatz. Muss bloß erst zum Arzt um so einen Wisch ausfüllen zu lassen. Verstehe auch noch nicht so ganz warum diese Therapeutin sich das antun will. Und überhaupt bin ich ein bisschen verwirrt. Von allem. Aber ich habe beschlossen: es muss sich etwas ändern. Die letzten Monate - das letzte Jahr - dürfen sich nicht wiederholen. Ich meine - ich habe das schon so so oft versucht. Und bin jedes Mal daran gescheitert. Vielleicht scheitere ich dieses Mal auch. Aber. Das ist immer noch besser als es gar nicht mehr zu versuchen.

26.09.21 14:59 Uhr: Reflexionen
Heute vor vier Jahren habe ich keinen Sinneswandel vollzogen. Es liest sich vielleicht ein bisschen so, wenn ich von meinem "neuen Leben" spreche. Aber erst kamen die Zwangsmaßnahmen - gegen die ich mich "natürlich" aufgelehnt habe: beispielsweise habe ich mein Esstagebuch "aufgebessert" und bei der Gewichtskontrolle beim Arzt geschummelt - und erst ein halbes Jahr später habe ich den Entschluss gefasst für mich etwas gegen meine Essstörung zu tun. Und nicht nur, weil mein Umfeld das so wollte. Zu dem Zeitpunkt habe ich immer noch versucht, dem Gesundwerden meine Regeln zu diktieren. Ich will zwar gesund werden, aber nur wenn ich am Ende nicht mehr als xx Kilo wiege. Ich will zwar gesund werden, aber für den Fall, dass ich mal ein Mittel zur Emotionsregulation brauche, spare ich mir ein bisschen meiner Essstörung auf. (Spoiler: das funktioniert so natürlich nicht.)

Der ganze Stress 2019 hat der "Operation Recovery" dann einen ordentlichen Dämpfer verpasst. Ich hatte gerade genug Kraft übrig, um die Krankheit irgendwie in Schach zu halten. Mehr nicht. Und dann hat sich 2020 irgendein Schalter umgelegt. Ich kann den Zeitpunkt nicht benennen und kenne auch keinen expliziten Grund, der dazu geführt hat - aber seitdem läuft es mit dem Essen. In Extremsituationen muss ich immer noch aufpassen, dass ich nicht rückfällig werde - aber mittlerweile kenne ich die Frühwarnzeichen. Ich kann die Gedanken besser hinterfragen, und die Tür, in der die Essstörung jahrelang noch einen Fuß hatte, bleibt fest verriegelt.

26.09.21 18:34 Uhr: Reflexionen II
Der Sinneswandel war also mehr ein Prozess, aber trotzdem hat dieser 26. September für mich eine Wichtigkeit. Wäre dieser Tag vor vier Jahren nämlich nicht genauso abgelaufen, wie er nun eben ablief, hätte ich mich wahrscheinlich mit ganzen Kräften weiter der Selbstzerstörung gewidmet. Habe ich aber nicht; stattdessen bin ich hier, und nach dem obligatorischen Kaffee bei den Großeltern ist dieser Tag auch immer für ein wenig Selbstreflexion reserviert.
Was habe ich erreicht? Wo will ich vielleicht noch hin, was sind die nächsten Ziele? Inzwischen ist das wohl mehr ein Finetuning - die Essstörung ist im Alltag nicht mal mehr Hintergrundrauschen - aber so ganz aus dem Blick lasse ich das Thema (noch?) nicht. Ich weiß nicht, ob das irgendwann möglich sein wird, dazu spielen zu viele Faktoren in die ganze Sache mit rein. Schließlich ist die Essstörung auch immer "nur" ein Symptom. Mittelfristig gibt es wohl auch noch einige... tieferliegende Dinge, die der Veränderung benötigen. Aber dazu ist jetzt mit dem Umzug und dem ersten Job nicht der richtige Zeitpunkt.

Was nun den ersten Absatz angeht: ich trete dieses Leben nicht mehr mit Füßen. Ja, da ist mehr Dankbarkeit; manchmal bis an den Punkt, an dem sie mir zu den Ohren wieder
rauskommt - und mittlerweile bin ich nicht mehr nur meinem Team dankbar. Ich weiß, dass diese Menschen viel für mich getan haben, aber i c h habe eben auch viel für mich getan. Es gab so viele Situationen, die ich alleine meistern musste: ich werde nie vergessen, wie ich mir auf der Toilette im Theater die Augen aus dem Kopf geweint habe, weil ich nicht mehr konnte. Da hat mich keiner an die Hand genommen; ich selbst musste irgendwie die Verzweiflung beiseite fegen und mich wieder an die Arbeit machen. Vielleicht war es auch ganz gut, dass ich nicht wusste, wie viel Arbeit da überhaupt auf mich zukommt. Dann hätte ich diesen Schritt wohl nie gewagt. Aber nun, mit dem Wissen darüber, wie g u t es werden kann, würde ich es immer wieder tun. Weil das vorher kein Leben war; ich saß 8 Jahre lang in einem Käfig fest und war mit Sterben beschäftigt. Ich habe die Freiheit erst auch nicht gewollt, das muss ich
zugeben - nach einem Jahr Krankheit stand ich (aus freien Stücken!) schon in einer Klinik auf der Matte, die auf Essstörungen spezialisiert war. Und dann habe ich nen Rückzieher gemacht. Habe mich auch geweigert, mit meinem ambulanten Therapeuten daran zu arbeiten.

Mittlerweile habe ich Blut geleckt - im positivsten Sinne. Natürlich gibt es noch Situationen, in denen das Konzept von "Freiheit" mich zu Tode ängstigt. Aber die Zeit der Gefangenschaft ist vorbei. Ich lasse mich nie wieder in Ketten legen. Und ich hoffe, dass ich diesen Text nie brauchen werde, um mich daran zu erinnern. 

3 Kommentare:

  1. Scheitern ist immer ein Schritt in Richtung Gewinnen. Scheitern zeigt uns, wo wir nicht mehr hingehen, und richtet einen genaueren Weg für uns aus. Ich bin froh, und stolz, dass du einen Therapieplatz hast. Dich aufs potenzielle Scheitern einlässt. Oder aufs potenzielle Gewinnen.
    Ich schick dir eine Umarmung, wenn du magst.

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    1. Vielen lieben Dank für diesen Kommentar <3 (Für den davor übrigens auch. Der war nämlich einiges wert.) Ich habe das so noch gar nicht gesehen. Also danke für den Denkanstoß.
      Die Umarmung nehme ich übrigens gerne. Kann ich im Moment gut gebrauchen. Ich hoffe, ihr seid soweit okay?

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    2. Wir sind okay, wir überstehen die Zeit recht gut gerade. Es ist manchmal durcheinander, und Tage verschwimmen, aber es bleibt ruhig hier.
      Immer wieder gerne <3

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